"Kinder betreten die Schule als Fragezeichen
und verlassen sie als Punkte"
(Neil Postman, Keine Götter mehr)
oder: So hat es angefangen!
Der Fragekasten
Ein gewöhnlicher Schuhkarton, von mir zum "Fragekasten" erhoben, offenbart
ungewöhnlichen Inhalt: Elf Jungen und elf Mädchen meines 2. Schuljahres
haben
Fragen zusammengetragen, die ihnen in diesem Augenblick wichtig, spannend
und nachdenkenswert erschienen. Diese Fragen wurden auf Karten
geschrieben und als "Fragegarten" Woche für Woche abgeerntet. Einige
Kostproben:
•
Wie ist der erste Mensch auf die Welt gekommen (und selbst, wenn die
Schöpfungsgeschichte stimmt: wer hat Gott gemacht?)?
•
Warum gibt es Patrick?
•
Wann ist tot?
•
Wieso wacht man immer wieder auf?
•
Gibt es Gott wirklich?
•
Warum haben einige Kinder Angst vor ihren Eltern?
•
Warum gibt es Eltern?
•
Warum scheint die Sonne?
•
Wieso gibt es Autos?
•
Wie ist die Welt entstanden?
Wie sähe eine Schule aus, die sich bemühte, nur einen kleinen Teil dieser
Fragen im philosophischen Diskurs mit Kindern ernsthaft zu behandeln? Eine
Klasse, die diese Fragen als wichtig benennt, hat gelernt, Schule nicht nur als
Institution zu begreifen, die Mathematik, Lesen, Schreiben und Sachkunde
lehrt. Kinder, die so fragen, sind noch nicht vollständig Opfer eines Bildungs-
und Erziehungsprozesses, der auf die möglichst rasche ("effiziente")
Bewältigung zusammenhangloser Stoffmengen abzielt und eine Welt
vermeintlicher Fraglosigkeiten zeigt. Insofern ist "Philosophieren mit Kindern"
auch Widerstand gegen die Mutation des Fragezeichens zum immer
währenden Punkt, laut Euklid etwas, "das keine Teile hat.“ Wie lassen sich
Kinder im 2. oder auch 1. Schuljahr an philosophisches Denken heranführen?
Ausgangspunkte sind Alltagssituationen oder Kinderbücher, die ein Thema zur
Erörterung bieten. Die eigene Vorbereitung beginnt bei der Suche nach jener
Grundfrage, die mir persönlich bei dieser Geschichte, bei dieser
Alltagssituation in den Sinn kommt, mich bewegt, mir wichtig erscheint. Nur
Lehrkräfte, die selber das Fragen und Staunen noch nicht verlernt haben, sich
nicht in der Rolle des "Allwissenden" gefallen, bringen eine wesentliche
Voraussetzung für diese Art von Unterricht mit. Das Ziel besteht vorrangig
nicht in der Vermittlung von Wissen, sondern im "Erhellen" (Eva Zoller). Dazu
ist es notwendig, bestimmte Techniken anzuwenden. Begriffe klären (z.B. Was
ist ein Anfang?), hinterfragen (Stimmt das wirklich? Könnte es vielleicht auch
anders sein?) und weiterfragen, begründen, phantasieren und vertiefen
gehören zum Handwerkszeug, das Kinder ebenso schnell (oder langsam)
beherrschen lernen wie das kleine Einmaleins. Die Ferne des Themas zum
Alltagsleben der Eltern und manchem Verständnis von Grundschule lässt es
ratsam erscheinen, die Elternschaft einer Klasse, mit der ich philosophieren
möchte, gründlich auf dieses Neuland vorzubereiten. Zwei philsophische
Gesprächsrunden im Elternkreis und die regelmäßigen Berichte über
Philosophiestunden auf regulären Elternabenden haben nicht nur letzte
Zweifel beseitigt, sondern starke Anteilnahme und zuweilen Begeisterung
ausgelöst.
Mein Einstieg begann mit einem "Diebstahl" aus dem Kunstunterricht.
Kopfsilhouetten hatten die Kinder gezeichnet und im Stuhlkreis dann meine
vermeintlich banale Frage diskutiert: Was ist eigentlich in unserem Kopf? (Das
Wörtchen "eigentlich" verrät den Kindern inzwischen, dass es philosophisch
wird.). Die Aufzählung materieller Bestandteile erschöpfte sich rasch. Ein Junge
lieferte plötzlich das Stichwort: "Denken, Gedanken". Und schon waren wir
mittendrin: Wo kommen die Gedanken her, wo bleiben sie, nachdem wir sie
ausgesprochen haben, sprechen wir alle Gedanken aus? Kann man denken
ohne zu sprechen. Selten kamen der Klasse und mir 45 Minuten so kurz vor
wie in dieser Unterrichtsstunde.
Die nächste Einheit beschäftigte sich mit dem wunderschönen Bilderbuch
"Warum kann ich nicht fliegen? von Ken Brown (Parabel Verlag). Die Geschichte
ist schnell erzählt: Ein Strauß fragt sich, warum er nicht fliegen kann, wo er
doch ein Vogel ist und alle anderen Vögel diese Kunst beherrschen. Im Dialog
mit seinem Freund, dem Spatz, untersucht er mögliche Gründe. Als beide nicht
mehr weiterwissen, mutmaßt der Spatz, der Strauß übe vielleicht zu wenig.
Das leuchtet dem Strauß auf Anhieb ein. Sofort beginnt er mit einem
umfangreichen Übungsprogramm, das in einer Serie von Fehlschlägen endet.
Schließlich baut er eine Flugmaschine. Nach zwei Abstürzen geschieht das
vermeintliche Wunder: Der Strauß fliegt! Aber welche Enttäuschung - kein
einziger Vogel schaut ihm zu. „Wo seid ihr denn alle“, ruft er enttäuscht. „Wo ist
der Spatz? Ich kann fliegen und niemand von euch sieht es! Hinterher wird mir
keiner glauben...“ Der überraschende Schluss: Ein doppelseitiges Bild, das eine
Schar großer Vögel zeigt, die den Strauß an langen Seilen durch die Lüfte
ziehen. „Aber ja, alle glaubten ihm!“
Das Buch habe ich im Stuhlkreis vorgelesen, die Bilder präsentiert Nicht immer
lachen Kinder so häufig und so herzhaft wie beim Anschauen dieser Bilder. Zu
Beginn trugen die Kinder ihr Sachwissen über den Vogel Strauß zusammen.
Dabei kam bereits der Hinweis, dass dieser Vogel nicht fliegen könne,
verbunden mit ersten Mutmaßungen über die Gründe (Gewicht, zu kurze
Flügel). Der Präsentation des Buches folgte die Meinungsrunde - wie gefällt dir
die Geschichte? Die Antworten wurden stets begründet und boten Ansätze für
ein nachdenkliches Gespräch: Die Geschichte gefällt mir, weil der Strauß nicht
aufgegeben hat, weil ihm die anderen Vögel geholfen haben, weil...Die erste
Überraschung: Bei der Identifikationsfrage machte nicht der Strauß sondern
der winzige Spatz das Rennen! Die wesentliche Diskussion kreiste jedoch um
die Frage, ob sich die Kinder genauso wie der Strauß verhalten oder
bestimmte Dinge anders gemacht hätten. Die Bandbreite der Antworten
reichte von der völligen Übereinstimmung mit der Handlungsweise des Vogels
über phantastische Vorschläge zur Verbesserung seiner Lösungsstrategie bis
zur deutlichen Ablehnung des Strauß-Versuchs: "Warum will der Strauß
eigentlich auch fliegen können wie die anderen Vögel? Er kann doch dafür
andere Dinge, die diese Tiere nicht können, zum Beispiel schnell laufen, den
Kopf in den Sand stecken oder große Eier legen. Ich wäre an seiner Stelle mit
dem zufrieden, was ich kann."Hat der achtjährige Jelde mit dieser Antwort
nicht eine "Seinsfrage" berührt? Wie will ich sein, wie will ich leben? Die Jagd
nach dem ultimativen Kick, der trügerische Befriedigung schafft, oder das
Ausschöpfen und ruhige Genießen der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten -
was ist erstrebenswert? Die Klasse staunte nicht schlecht über diesen Jungen,
der nicht versteht, warum der Strauß unter allen Umständen etwas können
möchte, was die Natur für ihn nicht vorgesehen hat. Die Klasse stritt über
diese Frage philosophischer Dimension lange, ohne sich zu einigen und fühlte
sich dennoch wohl. Sie lernte, andere Meinungen zu respektieren, sie
auszuhalten.
Der philosophische Gehalt dieses Kinderbuches hat sich mit dieser Frage nicht
erschöpft. Natürlich tauchte irgendwann der Einwand auf, der Strauß hätte
sich ja statt der unzureichenden Flugmaschine ein richtiges Flugzeug bauen
können. Kann das ein Vogel Strauß? Die Kinder begründeten ihre
entschiedenen Zweifel mit Argumenten, die einem Lehrbuch über menschliche
Entwicklungsgeschichte hätten entnommen sein können: Der Strauß bräuchte
für diese Aufgabe Hände, Füße, Werkzeuge und - ein großes Gehirn. Nur so
könne er sich einen Plan machen von dem, was er bauen wolle. Das aber sei
eben den Menschen vorbehalten, wenngleich auch Vögel etwas bauen
könnten, zum Beispiel ein Nest. Das aber sei wieder etwas anderes. Die
Menschen "wissen" etwas, die Vögel nicht.
Diese Aussagen eröffneten ohne Mithilfe der Lehrkraft spontan ein neues Feld
für ein philosophisches Gespräch: Wie unterscheiden sich Mensch und Tier?
Diese wenigen Erfahrungen aus einem Unterricht, der Philosophieren als
Prinzip versteht, verweisen auf zwei wesentliche Voraussetzungen für das
Gelingen:
Die Entwicklung einer demokratischen Gesprächskultur möglichst schon im
Kindergarten.
Den Abschied von dem so lieb gewonnenen, aber ohnehin bereits brüchig
gewordenen Bild des "wissenden" Lehrers (Martin Stahlmann)
An seine Stelle tritt ein Mensch, der gemeinsam mit Schülerinnen und
Schülern versucht, Schritte durch eine zunehmend unwegsamere Gesellschaft
zu gehen und dabei vielleicht wieder als "Politiker und Künstler" (Paulo Freire)
gefragt zu sein: "Skating away on the thin ice of a new day" (Jethro Tull). Für
das Philosophieren mit Kindern heißt das, eine Lehrkraft zu sein (besser: zu
werden), die im philosophischen Umgang mit Kinderfragen in kompakter Form
wesentliche Teile ihrer eigenen Kindbiographie wiedererlebt. Oder anders
ausgedrückt: Eine Philosophie, deren Vertreter sich der Herkunft ihrer eigenen,
differenzierteren Denkfähigkeiten - ihrer Kindheit - bewusst sind, muß den
Dialog mit diesem Ursprung suchen (Stefan Englhart). Philosophieren mit
Kindern bewirkt allerdings noch etwas, das wir im sonstigen Unterricht leider
immer weniger erleben: Verhaltensschwierige Kinder, die eher durch
Störaktionen denn durch konstruktive Mitarbeit auffallen, bringen sich
ausdauernd und mit zunehmender Begeisterung in die "Philosophie-Stunden"
ein. Woran liegt das? Sie fühlen sich ernstgenommen und frei von
Leistungsdruck sowie den damit zu erwartenden Versagenserlebnissen. Da
ihre Äußerungen weder kommentiert noch bewertet werden, fühlen sie sich
den "Leistungsträgern" ebenbürtig. Folglich wachsen Selbstwertgefühl und
Selbstbewusstsein. Das Philosophieren mit Kindern kann auch einen Beitrag
leisten, die Forderung zu verwirklichen, die Ernst Cloer in einem lesenswerten
Aufsatz erhebt: Alle Kinder stärken - die beste Schule gegen Gewalt.
Schließlich: Wer nie Philosophie, richtige Philosophie mit Kindern oder einer
Gruppe von Kindern betrieben hat, hat eine der schönsten Gaben, die das
Leben zu bieten hat, verpasst. Ich schlage daher vor, diesem Mangel so schnell
wie möglich abzuhelfen (G. B. Matthews).
Literaturverzeichnis
Ken Brown, Warum kann ich nicht fliegen? Zürich 1990
Ernst Cloer, Alle Kinder stärken- die beste Schule gegen Gewalt. Nds.
Schulverwaltungsblatt 11/1994
Stephan Englhart, Modelle und Perspektiven der Kinderphilosophie. Heinsberg
1997
Eva Zoller, Die kleinen Philosophen. Zürich 1991
Den Anfang machte ein Trailer für eine „360
Grad“ Sendung des Oldenburger
Bürgersenders Oeins mit dem Titel „Woran
glaubst du?“, an der ich als Gast
teilgenommen habe. Die Philosophier-Runde
mit Kindern, mit der ich den Zuschauer*innen
vorgestellt wurde, gab den Anstoß für ein
Vorhaben namens
„Denk mal – Kinder philosophieren“,
das sich auf insgesamt
17 Sendungen zu jeweils 55 Minuten
erstreckte. Doch damit nicht genug:
Erfahrungen im gemeinsamen Philosophieren
mit Kindern, Studierenden und Senioren
führten zu weiteren
sechs Sendungen mit dem Titel
„Philosophiercafé“.
In diesem etwas veränderten Format
philosophierten Kinder, Senioren und
Studierende unter verschiedenen Aspekten
über eine zentrale Frage, die den ethischen
Diskurs seit mehr als 2000 Jahren beherrscht,
aber aktuell fast gänzlich aus der
gesellschaftlichen Debatte verschwunden ist:
Was ist das gute, das gelingende Leben?
Die „Denk mal“ - Sendungen wurden an
verschiedenen Orten, die jeweils einen
thematischen Bezug aufwiesen,
aufgezeichnet. Das „Philosophiercafé“ fand
regelmäßig in Bad Zwischenahn, im
Kuppelsaal des dortigen Hauses
„Brandstätter“, statt. Die Beiträge wurde
übrigens ungeschnitten gesendet (lediglich
bei gelegentlichen Zeitüberschreitungen
musste gekürzt werden), sodass stets reale
und keine künstlichen Gesprächsverläufe die
Zuschauenden erreichen.
Leider sind aktuell nur noch einige
Sendungen bei youtube zu finden.
Wir arbeiten an einer Lösung
THEMEN :
•
Gehört „faul sein“ zu einem
gelingenden Leben?
4. Folge „Philosophiercafé“
•
Was ist Lebenskunst?
5. Folge „Philosophiercafé“
•
Was ist ein gelingendes Leben?
6. Folge „Philosophiercafé“
•
Wozu philosophieren?
•
Können Steine sterben?
•
Krieg und Frieden
•
Ist der Mensch eine Ware?
•
Freiheit
•
Kann man die „2“ sehen?
•
Was ist Zeit?
•
Demokratie
•
Gut und Böse
•
Schule
•
Ist der Tisch Kunst“?
•
Wann bin ich mir selber fremd?
•
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
•
Sprache
•
Natur und Mensch
•
Mensch und Technik
•
Buch oder Tablet?
•
Was Corona mit uns macht! 10.5.2021
aus der Praxis
LINKS:
Im Projekt StarkeKids
(bekannt aus ORF, Kinderschutz-Bund,
Eltern und Focus Online)
finden sich weitere, praktische Anregungen
zum Philosophieren mit Kindern